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Georg Baselitz

Adler, Baum, Frau im Fenster…

1980

Mappe mit neun Kaltnadel- und Aquatinta-Radierungen auf Bütten 
Maße: jeweils 78,7 x 56 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert und datiert rechts unten, nummeriert links unten
Exemplar-Nummer: 18/20
Verlag: Maximilian Verlag, München
Inventar-Nummer: 1001094.1–9
Abbildungen: Blatt 4 und 6

 

Der Titel Adler, Baum, Frau im Fenster … benennt einige Bildmotive des Mappenwerks.1 Speziell der Adler begegnet einem häufig in Baselitz’ Werk. Jedoch wählt der Künstler seine Motive nach eigenen Worten eher willkürlich aus. Der Adler ist Symbol göttlicher und herrscherlicher Macht, Attribut des Evangelisten Johannes sowie ein oft verwendetes Wappentier. Doch hat er in Baselitz’ Werk angeblich keine besondere Bedeutung. „Und all die Dinge (…) sind als Provokation zu verstehen. Die Gegenstände oder Motive sind aus den Fingern gesogen, an den Haaren herbeigezogen.“2 Seit 1969 arbeitet Baselitz mit der Umkehrung der Bildmotive: Das Auf-den-Kopf-Stellen ist selbst ein formales Motiv, das er immer wieder benutzt: „Das Problem ist nicht der Gegenstand auf dem Bild, sondern das Problem ist das Bild als Gegenstand. Und diese Frage, womit da hantiert wird, (...) die stellt sich einfach nicht“, gibt der Künstler an, denn „das Objekt drückt rein gar nichts aus. (…) Und ich sagte mir, wenn dies so ist, dann muß ich all das, was immer Gegenstand der Malerei gewesen ist – z. B. Landschaft, Porträt, Akt, nehmen und umgekehrt malen. Das ist der beste Weg, eine Darstellung vom Inhalt zu befreien.“3


Die Blätter dieser Mappe unterscheiden sich in ihrer Helligkeit und ihrem Ausdruck. Die Darstellung mit dem Titel Winkende Frau entstand in Aquatinta-Technik und wirkt weich und flächig. Das locker gezeichnete Blatt weist nur wenige geschwungene fleckige Linien auf, die die Figur skizzieren. Die Haltung der Frau ist deutlich zu erkennen. Als Kontrast dazu das Blatt Adler, eine Kaltnadelradierung. Die Strichführung ist hier aggressiv, scharfkantig und expressiv. Das Motiv rückt nach links aus dem Bildzentrum heraus und die Konturen des Adlers verschwimmen in der schwarz gestrichelten Randzone, die die Darstellung einfaßt und beinahe die Hälfte des Blattes einnimmt. Noch kontrastreicher sind die beiden Blätter Ohne Titel gestaltet, ebenfalls Kaltnadelradierungen. Während das eine in der Art seiner Hell-Dunkel-Relationen wie das Negativ zum Blatt Adler wirkt und auch das gleiche Motiv darstellen könnte, ist die Expressivität des anderen derart gesteigert, daß keine inhaltliche Deutung mehr möglich ist, allenfalls lassen sich Anklänge an vegetative beziehungsweise kristalline Formen ausmachen.
Der Blick wird jeweils auf ein Zentrum gelenkt. Baselitz hat schon Ende der 50er Jahre begonnen, seine Bilder so zu komponieren, daß dem Betrachter ein Anhaltspunkt geboten wird.4 Solche Zentren sind auch in den Graphiken des Mappenwerks zu finden. Sie ziehen den Blick auf sich, selbst wenn sie nicht in der Blattmitte liegen. Mit der Umkehrung seiner Motive war es Baselitz gelungen, wesentliche Themen der Kunstgeschichte, die Figur, die Landschaft, das Porträt, den Akt, heraldische Symbole, in ihrer Bedeutung außer Kraft zu setzen, ohne sie verschwinden zu lassen. Gleichzeitig tritt die Freiheit der künstlerischen Darstellung umso deutlicher in Erscheinung. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht unwichtig zu wissen, daß Baselitz selbst einer der weltweit bedeutendsten Sammler der virtuosen druckgraphischen Kunst des Manierismus ist.5


Katrin Schmidt


 
1 Fred Jahn, in Zusammenarbeit mit Johannes Gachnang, Georg Baselitz. Werkverzeichnis der Druckgraphik, Bd. II (1974–82), Bern/Berlin 1987, Wv. Nr. 239–247, S. 96–105.
2 Georg Baselitz, hrsg. v. Benedikt Taschen, Hamburg/Wittingen 1990, S. 8f.
3 Ebd., S. 158, S. 88.
4 Georg Baselitz im Gespräch mit Heinz Peter Schwerfel, Köln 1989, S. 45.
5 Vgl. Kat. der Ausst. La bella maniera. La collection d’estampes maniéristes de Georg Baselitz, hrsg. v. Emmanuelle Brugerolles, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Paris 2002.