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Antoni Tàpies

Berlin Suite

1975

Mappe mit zehn Farblithographien auf Bütten
Maße: jeweils 55 x 76 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert rechts unten, nummeriert links unten
Exemplar-Nummer: 94/150
Druck: Poligrafa, Barcelona
Verlag: Propyläen, Berlin
Inventar-Nummer: 1001296.1–10

 

Der Titel Berlin Suite läßt an die deutsche Hauptstadt denken, zumal Tàpies dort 1974 im Rahmen einer Ausstellung sein Werk präsentiert hat.1 Die Lithographien weisen das für den Künstler typische Bildvokabular auf, das hier gelegentlich auch auf seine spanische Heimat anspielt: Die katalanische Flagge etwa findet sich auf Blatt 9, ihre Form ist zerfallen und die Farben der rot-gelben Streifen sind ineinander gekleckst, flüchtig aneinander gepinselt. Nur das in die Mitte gekritzelte Catalunya macht die Flagge noch kenntlich.


Die auf der ersten titelblattartigen Graphik dargestellte Tür wirkt wie eine Pforte in eine Welt rätselhafter Zeichen. In der Musik bezeichnet „Suite“ eine Abfolge von Tanzsätzen, in der Reisekultur meint das Wort ein gehobenes Hotelzimmer, bestehend aus einer Zimmerflucht. Immer vermittelt der Begriff eine Vorstellung vom Aufeinanderfolgen zusammenhängender Teile. Die Tür des ersten Blattes paßt demnach zur Assoziation einer Hotelsuite, denn wie durch mehrere Zimmer streifen die Augen über die Abfolge der Lithographien. Dabei treffen sie auf immer neue Bedeutungsebenen, die einander widersprechen: Das griechische Kreuz etwa, das positiv als Multiplikationszeichen einer Gleichung im vierten Blatt auftaucht, wird dort auch negativ in Form des Andreaskreuzes oder der Unbekannten „X“ zum Ausstreichen benutzt. Zudem schreibt Tàpies das „T“ seines Namens in Form eines Kreuzes, verwendet aber auch das Taukreuz, das der Großbuchstabe „T“ bildet. In Blatt 8 wird diese balkenartig schwarze Grundform von einem geschwungenen „M“ überlagert, das in dieser Kombination an das Brandenburger Tor denken läßt. Indem der Künstler das Bild als Erinnerungsträger bespielt, schafft er ein Repertoire seiner Gedächtniskunst.2 Aber zugleich verlieren die Zeichen ihre kommunikative Eindeutigkeit. In Tàpies’ Berlin Suite sind Gegenständlichkeit und Abstraktion kaum zu unterscheiden.
Der Betrachter soll schauen, nicht dem Irrglauben verfallen, die Dinge mit ihrer Benennung bereits erfaßt zu haben. „Wie schaut man ein Ding an, ohne etwas darin finden zu wollen, was angeblich in ihm steckt, sondern nur, was ganz einfach da ist?“3


Statt die Dinge mit Bedeutung belegen zu können, um sich von ihnen als Subjekt abgrenzen und ein Verständnis sichern zu können, erfährt der Betrachter auf Tàpies’ Bildern eine „Fragestellung, als Problem oder Rätsel, als das Feld eines Dialoges und als Medium der Erkenntnis.“4 Wenn man sie aushält, kann man erleben, daß sich die Dinge nicht in die Denkmuster einfügen lassen. Es kommt nicht in erster Linie auf den dargestellten Inhalt an, dieser wird mittransportiert, wird sozusagen angehäuft, um über sich hinauszuführen. Das Bild ist Mittel, um die Wahrnehmung zu erneuern, es muß dialogisch verstanden werden, denn: „Ohne aktiven Betrachter gibt es keine Kunst, so wie es ohne Augen kein Licht gibt.“5


Coralie Rippl

 

 

1 Vgl. Kat. der Ausst. Antoni Tàpies, Retrospektive 1946–1973. Bilder, Objekte und Zeichnungen, Nationalgalerie Berlin, hrsg. v. Werner Haftmann, Berlin 1974. Die Berlin Suite ist verzeichnet in: Mariuccia Galfetti, Tàpies, Das druckgraphische Werk. L’oeuvre gravé 1973–1978, St. Gallen 1984, Kat. Nr. 476–485, S. 104–109.
2 Vgl. Barbara Catoir, Empremtes – Spuren. Antoni Tàpies. Das Werk, Köln 2003, S. 35.
3 Antoni Tàpies, Die Praxis der Kunst, St. Gallen 1976, S. 83.
4 Melitta Kliege, Antoni Tàpies – Bilder und Vorstellungen, Nürnberg 2004, S. 14 f.
5 Antoni Tàpies, zit. nach: Kat der Ausst. Antoni Tàpies. Werke auf Papier 1943–2003, hrsg. v. Achim Sommer, Kunsthalle Emden, Köln 2003, S. 23.