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Giulio Paolini

Chiaroscuro

1997

Zwei Collagen aus je einem Siebdruck und einer Offsetlithographie, gefaltet als Passepartouts, innen und außen bedruckt
Maße: jeweils 50 x 40 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert rechts unten, nummeriert links unten
Exemplar-Nummer: 57/60
Verlag und Herausgeber: Edition Schellmann, München/New York
Inventar-Nummer: 1002536.1–2
 

Chiaroscuro, „hell-dunkel“, nennt Giulio Paolini sein Diptychon, das als Collage gearbeitet ist. Je eine zentrale Offsetlithographie wird gerahmt von einem Siebdruck in der Art eines Passepartouts, das von Farbflecken überzogen ist. Das eine „Passepartout“ ist weiß mit schwarzen Farbtropfen, die eher flächig gerundet sind, während das andere schwarz ist und weiße Farbspritzer trägt. Es wird deutlich, daß der Farbauftrag jeweils durch den Bildausschnitt des Passepartouts unterbrochen ist. Diese, dem Siebdruck fehlende Fläche, findet sich im Bildfeld wieder, als Photographie vom zerknüllten Ausschnitt seines Pendants. Die Papierknäuel schweben ähnlich positioniert vor grauem Hintergrund. Es entsteht nicht nur ein scharfer Kontrast zwischen Schwarz und Weiß, sondern auch zwischen den Bildebenen, zwischen Abbild der Wirklichkeit (Photographie) und malerisch gestalteter Fläche des Passepartouts, das seine originäre Funktion als Rahmen verloren hat, um selbst Teil der Darstellung zu werden. Das Papierknäuel ist isoliert als nun dreidimensionales Bild vom zweidimensionalen Bildausschnitt seines Pendants.


Chiaroscuro, hell-dunkel, ist die Eigenschaft von Licht – erst das Licht erlaubt dem Menschen das Sehen. Hell-dunkel ist auch den Farben immanent – Weiß bedeutet die absolute Anwesenheit von Licht, Schwarz seine absolute Abwesenheit. Zusammen ergeben sie den höchstmöglichen Kontrast, Grau gehört dem Zwischenbereich an. Chiaroscuro, ein häufig verwendeter Begriff in der Kunstgeschichte, gehört zum wesentlichen Instrumentarium der Malerei, das erst eine illusionistische Darstellung von Licht und Schatten, Perspektive beziehungsweise Plastizität ermöglicht.


Giulio Paolini, von seiner Ausbildung her Kunsthistoriker, ist Mitbegründer der um 1967 in Italien entstandenen Kunstströmung Arte Povera, einer Gegenbewegung zur Pop Art, die nach dem Verständnis der Italiener dem komplexen Tun des Künstlers nicht gerecht wird.1 In seinem Gesamtwerk reflektiert Paolini immer wieder Kunstgeschichte und Kunsttheorie, indem er aus seinem „imaginären Museum“ schöpft. „Es geht ihm nicht so sehr um die ,armen‘ Materialien sondern um konzeptionelle Entmaterialisierung, um die Analyse der künstlerischen Mittel als Sprachspiel. Die Sichtbarmachung der verborgenen kulturellen Konditionierungen der geschichtlichen Codes und Regeln des Systems der Kunst, insbesondere die Erfahrung des Sehens von Kunst, wird selbst zur Kunst. Der Künstler wird selbst zum Betrachter, der dem anderen Betrachter seine Empfindungen und Beobachtungen als Betrachter vermittelt.“2


In der zweiteiligen Graphik Chiaroscuro geht es um die Dialektik des Sehens beziehungsweise die Analyse der Mechanismen der Wahrnehmung. Der Betrachter soll empirisch erfahren, wie das Sehen von Kunst funktioniert, wie die Erzeugung von Illusion durch Farben und ihre Kontraste entsteht. Das Doppel der beiden Pendants dient der vielschichtigen Demonstration dieser Mechanismen, das Phänomen des Sehens – mit zwei Augen – wird selbst zum Bildgegenstand. Giulio Paolini kommentiert seine Kunstauffassung so: „Wie gesagt liegt die Paradoxie darin, daß gerade wir, die wir zur Betrachtung fähig sind, nicht sehen können: Ein Bild zu betrachten, bedeutet nicht, es sehen zu können, aber muß man nicht schauen, um zu sehen?“3 Im Wechselspiel zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden läßt der Künstler den Betrachter genau diese Paradoxie erkennen.


Christa Hoffmann

 

 

1 Nike Bätzner, Arte Povera (Phil. Diss. Berlin), Nürnberg 2002, S. 9.
2 Peter Weibel, in: Kat. der Ausst. Giulio Paolini. Von heute bis gestern, Neue Galerie im Landesmuseum Joanneum Graz 1998, S. 10.
3 ebd., S. 164.