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Franz Erhard Walther

Die Zehn Gebote

1987

Mappe mit zehn Siebdrucken und Bleistiftzeichnung auf Bütten
Maße: jeweils 88 x 62 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert und datiert rechts unten, nummeriert links unten
Exemplar-Nummer: 8/12
Herausgeber: Galerie Achim Kubinski, Stuttgart
Verlag: Edition Patricia Schwarz, Stuttgart
Inventar-Nummer: 1001567.1–10

 

Die Intention Franz Erhard Walthers, „Kunst statt vom fertigen Gebilde von ihrem Entstehungsprozeß her zu denken“1, läßt sich auch am vorliegenden Mappenwerk nachvollziehen. Skizzenhaft erscheinen die Bleistiftzeichnungen, die auf jedem der zehn Blätter mittig zu finden sind. In der Regel nähern sie sich menschlichen Zügen an, doch konkret läßt sich nur wenig auf den umrißhaften Zeichnungen erkennen. Jede dieser Zeichnungen wird von einem, mit roten Lettern hervorgehobenen Gebot überlagert. Dabei handelt es sich um semantisch offene Wortblöcke, die eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten zulassen.


Sprache ist für Walther künstlerisches Material, der mentale Prozeß eine legitime Werkform. 2 Begriffliche Überlegungen sind für ihn genauso wichtig wie der Schaffensprozeß an sich: „Kunst, die keine Begriffe enthält, interessiert mich nicht allzu sehr.“3 Folgerichtig lautet das erste Gebot des Werkes: „Beim Blick aus dem Fenster formen sich die Begriffe“.


Der Mappentitel läßt an die biblischen Zehn Gebote denken, doch der Künstler scheint viel mehr seine eigenen Gebote zu benennen. Vielleicht die Gebote seiner Auffassung von Kunst, die sich auch auf das Leben übertragen lassen und einen Erkenntnisprozeß in Gang setzen sollen. Mit den traditionellen Kunstformen lassen sich Walthers Botschaften nicht übermitteln, also schafft er seine eigenen, denen diese Gebote zugrunde liegen.


„Was ich für die Künste wünschte: die Forderung an den Menschen, seine eigenen kreativen Fähigkeiten einzusetzen, und zwar tatsächlich verantwortlich, sah ich in den Medien wie Malerei, Plastik, Theater, Literatur nicht enthalten. Wie ich bald wußte, war mit diesen konventionellen Medien jene Forderung auch gar nicht zu stellen. Das aber wollte ich.“4


Am deutlichsten erscheinen die Zeichnungen auf dem fünften Blatt, welches das Gebot „Bilder genügen als Antwort nicht“ vorstellt. Hier sind vier stark vereinfachte Menschen zu sehen. Mit dem Rücken zum Betrachter, schauen sie auf ein Bild an der Wand, das den Umriß eines weiteren Menschen zeigt. Anschaulich unterstreicht hier die Skizze das Gebot. Erst wenn das Bild durch den Betrachter vervollständigt wird, kann es zur möglichen Antwort werden.


Der Rezipient, den Walther nur „Betrachter / Benutzer“ nennt, ist angesichts des Angebotes stets dazu aufgerufen, den begonnenen Werkprozeß zu vollenden, und sei es nur gedanklich. Man darf also nicht erwarten, etwas Fertiges vorgesetzt zu bekommen. „Das Ganze wird nur angedeutet“;5 der Betrachter/Benutzer hat stets seinen Teil, vielleicht sogar den wichtigsten, zur Vervollständigung des Werkes beizutragen. Sehr treffend beschreibt diesen Grundsatz des Künstlers auch sein zweites Gebot: „Wer Resultate erwartet, braucht gar nicht erst anzufangen“ Walthers Werke sind Instrumente, die der „Betrachter / Benutzer“ zum Klingen bringen
soll.


Lilian Ziehler

 

 

Anhang  
Walthers zehn Gebote:
1. Beim Blick aus dem Fenster formen sich die Begriffe
2. Wer Resultate erwartet, braucht gar nicht erst anzufangen
3. Polieren ist keine Lösung
4. Das Ganze wird nur angedeutet
5. Bilder genügen als Antwort nicht
6. Der Ausgangspunkt liegt selten in der Mitte
7. Der Sockel muß gefunden werden
8. Die Gefäße warten auf Füllung
9. Wenn die äußere Form steht, kann das innere Bild nicht fallen
10. Immer nur den Anstrich erneuern, reicht auf Dauer nicht    

1 Franz Erhard Walther, in: Michael Lingner / Franz Erhard Walther, Zwischen Kern und Mantel, Klagenfurt 1985, S. 42.
2 Vgl. Franz Erhard Walther, in: Michael Lingner (Hrsg.), Das Haus in dem ich wohne, Klagenfurt 1990, S. 377.
3 Franz Erhard Walther, in: Lingner / Walther 1985, S. 34–35.
4 Franz Erhard Walther, in: Germano Celant (Hrsg.), Ars Povera, Tübingen 1969, S. 174.
5 Walthers viertes Gebot.