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Andy Warhol

Electric Chairs

1972

Zehn Siebdrucke auf Karton
Maße: jeweils 90,5 x 122,5 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils verso signiert und datiert links unten
Exemplar-Nummer: 101/120
Herausgeber: Factory Ed., New York und Edition Bischofsberger, Zürich
Verlag: Edition Schellmann & Klüser, München
Inventar-Nummer: 1001295.1–10
Abbildung: Blatt 3

 

William Kemmler war 1890 der erste Mensch, der auf einem Elektrischen Stuhl hingerichtet wurde, nachdem er wegen Axtmordes an einer Frau zum Tode verurteilt worden war. Auf dem Stuhl festgezurrt, mit jeweils einer Elektrode am Kopf und an den Füßen, versuchte man zunächst, ihn mit einer Spannung von 1000 Volt zu töten. Nachdem er sich mehrere Sekunden lang vor Schmerzen gewunden hatte, wurde der Strom abgeschaltet. Kemmlers Fleisch war verbrannt, seine Adern geplatzt und Qualm war aufgestiegen. Die Spannung wurde nun auf 2000 Volt erhöht und erst nach weiteren 70 Sekunden war Kemmler tot. Zeugen der New Yorker Presse beschrieben die Hinrichtung als ein abscheuliches Horrorszenario.1


Kann ein Bild des Elektrischen Stuhls also Kunst sein? Man ist geneigt, diese Frage schon aus moralischen Gründen sofort zu verneinen, doch wer die Geschichte dieser Tötungsmaschine nicht kennt, mag Andy Warhols zehn Electric Chairs2 vielleicht als Werbung für Stühle in knalligen Farben sehen. Warhol selbst würde sagen „Alles ist hübsch.“3
So wird ein modernes, staatliches Tötungsinstrument, wie zuvor schon Gegenstände des Alltags, von Suppendosen über Coca-Cola-Flaschen bis hin zu Filmstills mit Marilyn Monroe, zum Thema seiner Kunst. Nicht nur bekannte Persönlichkeiten und Konsumobjekte, sondern auch Katastrophen und Ereignisse wie Flugzeugabstürze, Autounfälle und das öffentliche und in den USA legale Töten eines Menschen sind Themen seiner Pop Art.


Das zentrale Motiv, der Elektrische Stuhl, steht mit herabhängenden Kabeln, Elektroden, Fuß- und Armfesseln in einem sonst leeren, sterilen Raum, direkt vor der Rückwand. Als Vorlage für alle zehn Drucke diente Warhol ein Zeitungsphoto aus dem Jahr 1953, das einen Artikel über die anstehende Hinrichtung von Julius und Ethel Rosenberg illustrierte, die auf Grund angeblicher Atomspionage verurteilt worden waren. Schon vor diesen zehn Druckgraphiken gab es 1967 eine große Version, den Big Electric Chair, der die damals hitzige Diskussion zwischen Verfechtern und Gegnern der Todesstrafe aufgriff.


Durch die klar erkennbaren großen Rasterpunkte treten die Merkmale der drucktechnischen Reproduktion deutlich hervor. Auch in anderen Werken unterstreicht Warhol das Medium mittels gewollter Fehler, um die Illusion des Bildes zu brechen und zu reflektieren. Die farbige Ausführung der Drucke überließ er seinen Mitarbeitern.
In einer Version der zehn Electric Chairs dominiert dunkles Lila den orangefarbenen Grund, so daß nur noch Umrisse erkennbar sind und der Eindruck eines nachgedunkelten Photos entsteht. In einer zweiten, einer Art Negativbild, wird der Stuhl in hellem Silbergrau auf dunklen Hintergrund projiziert und ruft so direkte Assoziationen mit dem kurz aufleuchtenden Strom hervor, der durch die Vorrichtung fließt. Das Exemplar mit der wahrscheinlich größten Wirkung zeigt den dunkel hervorgehobenen Elektrischen Stuhl in expressiv verwischter, blutroter und orangefarbener Umgebung. Hier tritt die Brutalität hervor, da nicht jede Exekution ohne Zwischenfälle vonstatten geht. Die anderen Darstellungen kombinieren die Farben Gelb, helles und dunkles Blau, Rosa beziehungsweise Silbergrau und geben je nach Farbkomposition und Kontrast mehr oder weniger des grausamen Schauplatzes preis.


In den 70er Jahren sorgten die Electric Chairs wie auch andere Bilder aus Warhols Todes- und Katastrophenserie für Empörung. Er führte durch bekannte Zeitungsbilder, im Großformat reproduziert, in attraktiven Farben umgestaltet, die Alltäglichkeit des Todes vor Augen. Und selbst heute lösen sie mit ihrer Spannung zwischen Schrecken und Schönheit Befremden und Nachdenklichkeit aus, obwohl der Elektrische Stuhl als staatlicher Tötungsapparat nur noch in wenigen Staaten Anwendung findet.


Tina Kaiser

 

 

1 Vgl. New York Herald, 7. August 1890.
2 Kat. der Ausst. Andy Warhol. Das graphische Werk 1962–1980, hrsg. v. Hermann Wünsche, Bonn 1982, Kat. Nr. C 980.
3 Alfred Nemeczek, Andy Warhol, in: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, hrsg. v. Lothar Romain und Detlef Bluemler, München 1998, S. 2.