Werk-Detailseite (Ajax)

Martin Disler

Endless Modern Licking of Crashing Globe by Black Doggie Time-Bomb

1981

Kassette mit acht Radierungen auf Van Gelder-Papier, zusätzlich ein Titelblatt, ein Taschenmesser und eine Tonbandaufnahme mit der Aufschrift „Nigger-Joint Cabaret“
Aquatinta, Vernis mou, Aussprengverfahren, Kaltnadel und Photoätzung
Maße: jeweils 56 x 75,4 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert rechts unten, nummeriert links unten
Exemplar-Nummer: 36/49
Druck: Paul Mancusi, Aero Press Inc., New York
Verlag: Peter Blum, New York
Text: Martin Disler
Inventar-Nummer: 1001039.1–8
Abbildung: Blatt 5

 

Die Signalfarbe Rot fesselt sofort die Aufmerksamkeit – in schwarzen Großbuchstaben füllen Künstlername und Titel das gesamte Format der Kassette. Öffnet man sie, findet man zuerst eine Art Deckplatte, auf der ein schwarzes Klappmesser und die rot beschriftete Audiokassette Nigger-Joint Cabaret angebracht sind. Darunter liegt das eigentliche Deckblatt mit den roten Initialen M. D. In diesem frühen Portfolio nutzt Martin Disler die Vorteile der verschiedenen Techniken der Radierung, um seinen Stil – voller Energie und Getriebenheit – zum Ausdruck zu bringen. Die Farbe Schwarz spielt für ihn eine besondere Rolle, in einem Interview äußerte er: „In der Radierung habe ich das schwärzeste Schwarz gefunden. Dem schwärzesten Schwarz gehört meine ungeteilte Sympathie!“2 Die Bedeutung von Schwarz kristallisiert sich auch in der beigefügten Tonaufnahme Nigger-Joint Cabaret heraus, in der Disler seine rätselhaft-expressiven Texte vorträgt, welche die Graphiken ergänzen. Es handelt sich um Textpassagen, teils gesprochen, teils gesungen, untergliedert durch den Refrain: Endless Modern Licking of Crashing Globe by Black Doggie Time-Bomb sowie Und der Mond hackt das Loch in den Schiffsbauch. Dislers Texte enthalten deutsche Sätze, gemischt mit englischen, sie beziehen sich auf New York. Er spricht von sich als Black Doggie, die Farbe Schwarz kommt immer wieder vor, wörtlich und in Form von Dingen, die originär schwarz sind. Das Verfassen von Gedichten und die Artikulation der eigenen Stimme bedeuten für den Künstler Ausdruck einer „Freiheitsidee“, die sich auch auf seine Malerei übertragen hat. „Schreiben, Zeichnen, Malen, das ist der Weg in die Tiefe, wo die Bilder wohnen.“3 Die Formulierungen sollen inhaltlich und bildlich so scharf wie ein Messer sein. Nicht umsonst ist der Serie ein Taschenmesser beigelegt.


Das abgebildete Blatt zeigt zwei aus beängstigend schroff gezackten Linien bestehende Köpfe – unbestimmten Geschlechtes – die aus einem Hals hervorzuwachsen scheinen. Schlangenartige Gebilde winden sich wie Zungen aus ihnen hervor und durchdringen eine Weltkugel. Deutlich sind die Linien der Strichätzung zu sehen, die der stumpfe Stift auf der körnig strukturierten Bildfläche hinterlassen hat. Möglicherweise gibt eine Textpassage der Tonaufnahme Hinweise für eine Interpretation: „Liebste! Habe dich lange Zeit verwechselt mit der Weltkugel! Ich bin in einen Gewehrlauf gekrochen, hielt Ausschau in deinem Korb. Wie konnte ich vergessen, dass du ein Schiff bist? Wir gehen darin auf und ab.“ Disler arbeitete in New York mit seiner Lebensgefährtin Irene Grundel – Grundel bedeutet im Niederländischen „Schiff“.


Entstanden ist diese Serie, als er sich in New York ein Atelier einrichtete. Keine sichtbare Realität ist abgebildet, sondern Gefühle und Ängste, die hinter den Dingen stehen beziehungsweise von ihnen hervorgerufen werden: Nichts ist eindeutig und das ist beunruhigend. Es entsteht eine aggressive Zeichensprache. Erste Erfahrungen mit anderen Vorstellungen von Realität beziehungsweise Bewußtseinsebenen machte Disler schon in seiner Zeit als Pfleger in der Psychiatrie, die ihn letztlich zum Malen bewogen hat, nachdem er vorher schriftstellerisch tätig gewesen war. Alkohol und Psychopharmaka spielten eine Rolle in seinem Leben. Er spricht von „Halluzinationen“, die zum Bild führen. Seine Arbeiten erinnern in ihrer Expressivität bisweilen an Werke der Art brut, er selbst sieht sich zeitweise in der Nähe Jackson Pollocks, schließt aber einen bestimmten Stil aus. „Man könnte diese künstlerische Produktion vielmehr als Lebensgleichnis und ihre wiederkehrenden Themen wie Begierde oder Zuneigung, Verstrickung, Verschlingung, Vitalität oder Tod als ein ständiges Tasten nach der heutigen Rolle des Künstlers sehen. Die autobiografische Seite steht dabei nicht im Vordergrund, sie ist vielmehr eines unter vielen Arbeitsmitteln.“4


Christa Hoffmann

 

 

1Titel: „Endlos modernes Lecken der zerberstenden Weltkugel durch das schwarze Hündchen Zeitbombe“ Untertitel: „Und der Mond hackt das Loch in den Schiffsbauch“.
2 Marie Hélène Cornips, Ausschnitte aus einem Gespräch mit Martin Disler, in: Kat. der Ausst. Martin Disler. Zeichnungen 1968–1983 und das große Bild ,Öffnung eines Massengrabs’, Kunstmuseum Basel / Groninger Museum 1983, S. 11.
3 ebd.
4 Bice Curiger, Was wäre ein Feuerwerk ohne Detonation! in: Kat. der Ausst. Martin Disler, Invasion durch eine falsche Sprache, Kunsthalle Basel 1980, S. 7.