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Jochen Gerz

English Letter to Jane

1979/88

Serie von fünf gerahmten schwarz-weiß Fotografien
Maße: jeweils 24,6 x 30,5 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: signiert und nummeriert auf beiliegendem Zertifikat
Exemplar-Nummer: 6/12
Verlag: Galerie Anselm Dreher, Berlin
Schenkung: Karl Manfred Fischer
Inventar-Nummer: 1003442.1–5

 

Die Serie enthält ausgewählte Photographien einer 30-minütigen Performance, die Jochen Gerz 1979 in Venedig, 1980 in Paris und 1982 in Valencia realisierte.
Der Künstler steht – bekleidet mit einer Hose, die nur ein Bein bedeckt – auf einem Monitor. Ihm gegenüber befindet sich auf einem Sockel eine Schreibmaschine mit einem eingespannten Bogen Papier, der sich im Luftzug eines für das Publikum unsichtbaren Ventilators bewegt und in Abständen auf dem Monitor erscheint. Gerz hält einen Audiorecorder in den Händen, der das Geklapper einer Schreibmaschine und den von Gerz aufgenommenen Text English Letter to Jane abspielt. Scheinwerfer beleuchten abwechselnd die Schreibmaschine und den Künstler, der in einer archaisch-starren Pose, wie man sie von ägyptischen Statuen kennt, ausharrt. Zwischen dem Sockel mit der Schreibmaschine und dem Künstler wird der Text des English Letter to Jane auf eine Leinwand projiziert.
Das Publikum fungiert als indiskreter Mithörer eines privaten Gesprächs zwischen Mann und Frau. Es ist zwar dabei, nimmt aber nicht teil. Der Zuschauer muß selbständig die ihm zur Verfügung gestellten Worte und Materialien zu einem Ganzen zusammenfügen, als ob er zu einem Teil der Performance würde.


Gerz nimmt sowohl auf Kommunikationsprobleme in der Gesellschaft sowie auf die Scheinwirklichkeit der reproduzierenden Medien Bezug. Es ist ein Stück über nicht funktionierende Kommunikation zwischen Individuen, denn jedes Element ist aus seinem Zusammenhang gerissen und wird in einen neuen, sowohl fremden als auch öffentlichen Kontext gesetzt. Mit Zuhörern, einem Sprecher, Schreibmaschine und Text werden sämtliche Formen der Gesprächsführung im weitesten Sinne ausgeschöpft. Ein „Verständnis“ untereinander kommt trotzdem nicht zustande. Gesellschaftliche Mechanismen zerstören die Privatsphäre des Lebens, obschon der Wille zur Beziehung zueinander gegeben ist. „Das Leben ist von sich selbst getrennt, in einer Kopie erstarrt, jedes direkten Ausdrucks entleert. Die Thesen der Unterhaltungsgesellschaft stützen die Analyse. Visuelle Metaphern werden herangezogen, wenn erklärt wird, daß das Bild und die Schrift die Wirklichkeit verschleiern.“1


Gerz geht davon aus, daß die Massenmedien die Beziehungen der Menschen langsam aber sicher lahm legen und sie in eine „Ersatzwelt“ befördern, in der reale Probleme keinen Platz mehr finden und ausgeschaltet werden. Mit Performances wie English Letter to Jane übt Gerz Kritik an einem unreflektierten Medienkonsum. Ihre Scheinwirklichkeit – dargestellt durch die Reproduktionen des Originalbriefes auf dem Bildschirm, der Leinwand und dem Audiorecorder – ersetzt eine Realität, der der Einzelne entfremdet wird. Durch die Medien wird alles reproduzierbar und austauschbar. Damit geht eine Entwertung herkömmlicher, menschlicher Emotionen einher, die Gerz dem Publikum direkt begreifbar macht. „Performances haben sich für Jochen Gerz notwendigerweise aus der Problematisierung jener Distanz zwischen Autor und Publikum ergeben, die das Verständnis und den Zugang zur Wirklichkeit im persönlichen und gesellschaftlichen Leben verhindert.“2


Melanie Bollmann

 

 

1 Christian Besson, Jochen Gerz und die Sprache, in: Kat. der Ausst. Jochen Gerz – Griechische Stücke - Kulchur Pieces, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen a. Rh. 1985, S. 23.
2 Andreas Vowinckel, Die Abwesenheit der Anwesenheit – Zum Produktionsbegriff im Werk von Jochen Gerz, in: Kat. d. Ausst. Jochen Gerz – Life after humanism: Photo/Text 1988–1992, Neues Museum Weserburg 1992, S. 23.