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Joseph Beuys

Erdtelephon

1973

Siebdruck auf Filzpappe
Transformation eines Photos des Objektes Erdtelephon (1969) vor Filzwinkeln in der Sammlung Ströher, Darmstadt
Maße: 99 x 60 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: signiert und nummeriert Mitte unten
Exemplar-Nummer: 99/100
Herausgeber: Edition Schellmann und Klüser, München
Inventar-Nummer: 1001114  

Werke von Joseph Beuys wirken nicht selten verwirrend, rätselhaft, chaotisch. Auch die Abbildung eines alltäglichen Gebrauchsgegenstandes, eines Telephons, in Verbindung mit einem Klumpen Erde gleichen Volumens vor braun-grauem Hintergrund provoziert Fragen. Der Künstler selbst betrachtet dies durchaus als eine Basis für das Verständnis seiner Kunst und die erhofften Konsequenzen: „Der Mensch tendiert in der Gegenwart dahin, nur seinen Intellekt zu befriedigen und alles von den Gesetzen der Logik her zu verstehen. (…) Mir lag daran, daß alle im Unterbewußtsein vorhandenen Residuen aufgebrochen und in Form eines chaotisch lösenden Vorgangs regelrecht in Turbulenzen versetzt werden, denn der Anfang des Neuen findet stets im Chaos statt.“1
Als radikaler Umweltaktivist (1979 ist er an der Gründung der „Grünen“ beteiligt) fordert Beuys den Betrachter durch die Verbindung zweier konträr erscheinender Elemente zu einer Erneuerung des Sehens und Denkens auf, zu einer neuen Bereitschaft, auf die Natur zu hören, und zwar mit den Mitteln, die uns von unserem Geist bereitgestellt worden sind. Der Mensch wird durch das Erdtelephon2 aufgefordert, wie mit „Fühlern“ in die Erde hineinzuhorchen.


Die technische Ausstattung des modernen Menschen – hier vertreten durch das Telephon und seine leblose Kälte – konfrontiert Beuys mit einem weichen, organisch-warmen Klumpen Erde. Ein Augenzeuge der Aktion, in deren Folge diese graphische Arbeit entstand, berichtet: „Ich stand davor und nahm allmählich wahr, was da zu meinen Füßen lag. Ein Lehmklumpen, von Menschenhand geformt, und ein Gerät aus der Fabrik, Natur und Technik, ein einfaches und ein komplexes Gebilde; das eine Wärme ausstrahlend, das andere Kälte, das eine lebendig, das andere tot. Das tote Gerät ist dazu da, Verbindung herzustellen. Der Erdklumpen, bei dem das Unterste zuoberst gekehrt ist, nicht auch? Ist er nicht ein Zeichen, daß es not tut, mit der Erde Verbindung aufzunehmen?“3 Die menschliche Wahrnehmung soll demnach wieder auf die Sinnlichkeit der Natur gelenkt werden. Beuys: „Es kommt alles auf den Wärmegehalt im Denken an.“4
Mit Hilfe der modernen Technik scheint sich die Menschheit von der Natur weitgehend emanzipiert zu haben, ohne jedoch den Erhalt ihrer materialen Grundlagen genügend zu bedenken. Sie sieht die Technik nicht als Hilfsmittel, sondern als Mittelpunkt des Lebens. Joseph Beuys will sie zu neuem Denken und Handeln anregen. Mit dem, was er schon weiß, kann der Betrachter seine Kunst meist nicht verstehen, doch er kann sie als ein Angebot zur Weiterentwicklung seiner Wahrnehmung und seines Bewußtseins nutzen. Durch die Entfremdung des Geistes von der Natur haben die Menschen die Fähigkeit verloren, sich in deren Licht zu sehen. Sie sollen Natur und Technik in Einklang bringen und zurückfinden zu einem Leben, das die gegebenen Rohstoffe respektiert.


Melanie Bollmann



1 Götz Adriani u. a., Joseph Beuys – Leben und Werk, Köln 1981, S. 84.
2 Joseph Beuys, Multiplizierte Kunst. Werkverzeichnis, hrsg. v. Jörg Schellmann und Bernd Klüser, München (4. Auflage) 1977, Nr. 90.
3 Helmut Leppien, Joseph Beuys in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1991, S. 28.
4 Joseph Beuys (1982), zit. nach: Johannes Stüttgen, Zeitstau. Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys. 7 Vorträge im Todesjahr von Joseph Beuys, Stuttgart 1998, S. 163.