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Michelangelo Pistoletto

Gemelle

1998

Drei Siebdrucke auf Acrylglasspiegeln
Maße: jeweils 50 x 40 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils verso signiert und nummeriert Mitte unten
Exemplar-Nummer: 60/60
Herausgeber: Edition Schellmann, München/New York
Inventar-Nummer: 1002537.1–3

 

„Wie schön es wäre, wenn wir hindurch könnten ins gespiegelte Haus! (…) Im nächsten Moment war Alice schon durch den Spiegel und leichtfüßig ins gespiegelte Zimmer gesprungen.“ (Lewis Carroll, 1872)1  


Der Spiegel ist in der europäischen Kulturgeschichte ein Symbol für Eitelkeit und Vergänglichkeit, aber auch für Selbsterkenntnis. In der zeitgenössischen Kunst hat sich der Italiener Michelangelo Pistoletto immer wieder mit der Spiegelmetapher befaßt und sie ins Zentrum seines Werks gestellt. „Diese Materie (der Spiegel) hat mich befreit von dem ganzen existenziellen Drama, das ich in mir nährte und das ich in jenen kannte, die ich als meine Meister betrachte: Pollock und Bacon. Eine Befreiung, ein Übergang zu einer anderen Dimension, eine Vision der nicht mehr dramatischen Wirklichkeit; vielleicht schwieriger, jedoch viel klarer. Weil die Notwendigkeit sich zu erkennen, auf einen selbst zurückfällt, war ich zum Spiegel zurückgekehrt.“ (Michelangelo Pistoletto, 1973)2


Schon seit Beginn der 1960er Jahre nutzte er spiegelnde Oberflächen verschiedenster Art für seine Bilder. Alles begann mit Selbstporträts, bei denen er die Leinwand mit metallischer Farbe bemalte, die leicht reflektierte. Er experimentierte daraufhin mit verschiedenen Materialien, um den von ihm beabsichtigten Spiegeleffekt zu erreichen. Dies gelang ihm schließlich mit glattpolierten Stahlblechen, auf die er ab 1973 Siebdrucke montierte. Im Jahr 1964 arbeitete er außerdem erstmals mit durchsichtigen Plexiglasscheiben. Die hier beschriebene Arbeit kann als eine Synthese der beiden Materialqualitäten gesehen werden. Der Spiegel bei Pistoletto ist Bildträger, entsprechend der traditionellen Leinwand, er reflektiert aber gleichzeitig die Umwelt: Licht, Bewegung und aktuell wechselnde Spiegelungen setzt der Künstler anstelle von Pigmenten ein.3


Bei dem Werk Gemelle (ital.: Zwillinge) handelt es sich um drei gleich große Acrylglasspiegel, die als Triptychon gedacht sind. Der silbrig-schimmernde Spiegelgrund trägt jeweils einen Siebdruck. Auf den beiden äußeren Tafeln ist ein lebensgroßes Schwarz/Weiß-Photo einer jungen Frau zu sehen. Sie ist im Profil und nur bis zur Schulter dargestellt, trägt ein einfaches dunkles T-Shirt, einen Perlenohrring und das schwarze, gelockte Haar am Hinterkopf zusammengehalten. Das Motiv erinnert an das Gemälde Mädchen mit dem Perlenohrring von Jan Vermeer (1665). Pistoletto hat schon in früheren „Spiegelbildern“ Werke der Kunstgeschichte zitiert. Der entrückte Blick der jungen Frau vermittelt den Eindruck kontemplativer Stille. Erst durch die Spiegelung der Betrachter kommt sichtbar Bewegung ins Bild. Auf der mittleren Tafel befindet sich nur ein schwarzer Punkt, groß wie eine Pupille, auf der Mittelachse liegend, in Augenhöhe der Frau wie des Betrachters. Es ist nicht klar, ob auf beiden Tafeln das Bild derselben jungen Frau zu sehen ist. Der Titel Gemelle spricht dagegen, aber wenn man die komplexen Zusammenhänge zwischen Spiegel, Spiegelbild und Realität im Auge behält, scheint auch dies möglich. Der Betrachter geht mit seinen beweglichen Spiegelbildern in die Komposition der beiden statischen Profilbildnisse der Frau, oder der Frauen, ein. Pistoletto zieht ihn so in einen interaktiven Prozeß der Bildentstehung. Neben der Kontrastfolie der realen oder imaginären Zwillinge sieht man auch sich selbst als einen Anderen. Bei Michelangelo Pistoletto möchte man wie Alice im Wunderland durch den Spiegel in eine poetische Welt steigen, was für einige Momente auch möglich scheint, wenn man sich zwischen den „Zwillingen“ sieht.


Vanessa Krout

 

 

1 Lewis Carroll, Through the Looking Glass (1871), London 1994, S. 21. (Übers.: V. K.)
2 Michelangelo Pistoletto im Interview mit Mirella Bandini, in: Kat. der Ausst. Michelangelo Pistoletto, hrsg. v. Wieland Schmied, Kestner Gesellschaft Hannover 1973, S. 8/9.
3 Nike Bätzner, Arte Povera. Zwischen Erinnerung und Ereignis: Giulio Paolini, Michelangelo Pistoletto, Jannis Kounellis, Nürnberg 2000, S. 133.