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Bernard Schultze

Hommage à Lautréamont

1963

Kassette mit acht Kaltnadelradierungen
Maße: jeweils 53,5 x 37,5 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert und datiert rechts unten, nummeriert links unten
Exemplar-Nummer: 42/50
Druck: Kupferdruckerei A. W. Schulgen, Düsseldorf
Herausgeber: Edition Rothe, Heidelberg
Text: Lautréamont, Les Chants de Maldoror (Die Gesänge des Maldoror)
Inventar-Nummer: 1002499.1–8

 

„Meine Vernunftschlüsse stoßen zuweilen an die Schellen des Wahnsinns und an den ernsthaften Anschein dessen, was im Grunde nur komisch ist (obwohl es nach der Meinung gewisser Philosophen ziemlich schwierig ist, den Narren vom Melancholiker zu unterscheiden, da das Leben selbst ein komisches Drama oder eine dramatische Komödie ist); indessen ist es jedermann gestattet, Fliegen oder sogar Nashörner zu töten, um sich von Zeit zu Zeit von einer zu halsbrecherischen Arbeit zu erholen.“1  


Bernard Schultze beschäftigt sich in seinem Mappenwerk mit Lautréamonts Les Chants de Maldoror. Ein französischer Textauszug des Romans ist der Folge von acht Radierungen vorangestellt und auch der Titel Hommage à Lautréamont verdeutlicht die konkrete Beziehung der Radierungen zu ihrer literarischen Vorlage.2 Schultze huldigt dem Vater des unbewußten „inneren Monologs“.3 Für die surrealistische Technik des automatischen Schreibens aus dem unbewußten Gedankenstrom (écriture automatique) spielte Lautréamonts Dichtung als Vorbild eine bedeutende Rolle. Und so ist es nicht verwunderlich, daß sich auch Schultze, dessen Anfänge im Surrealismus wurzeln und der unter den informell arbeitenden Künstlern wohl auch der „surrealistischste“ ist, auf ihn bezieht.


„Gedankenstrom“ ist Schultzes Stichwort: „Innerer Monolog – ein Leben lang“, lautet ein Werktitel.4 Man könnte sagen, es malt aus ihm heraus. Schultze praktiziert, so wie Lautréamont das Schreiben, eine Art automatisches Malen. Am Rand des Blattes anfangend, windet sich sein Formengeflecht wie zufällig als dynamische Gestik des Unbewußten weiter, bis kein Fleckchen mehr unbedeckt ist. Der antike „horror vacui“ ergreift ihn mit langen Fingern. Die organisch ineinander verschlungenen Gebilde überfluten den Malgrund wie die Gedanken Lautréamonts Roman.


Wie die Assoziationen des Ich-Erzählers in den Chants de Maldoror unwillkürlich vom einen zum anderen springen, die einander fremdesten Dinge zu neuen Bedeutungen verknüpfen, funktioniert auch Schultzes Bildkosmos: Verästelungen wuchern, greifen aus, verschlingen sich ineinander, bilden labyrinthische Traumwelten, in denen sich der Betrachter verliert.


Lautréamonts Werk, ein Abgesang auf die vernunftbestimmte Welt und ihre gesellschaftlichen Konventionen, demonstriert mit der neuen Kategorie des Unbewußten ein grenzenund tabuloses Erzählen der unendlichen Möglichkeiten. Dieses nachbildend zeigt uns Schultze mit seinen metamorphosenartig sich verwandelnden, wild wuchernden Phantasiegebilden den Weg in eine „twilight zone“, die sich zwischen Form und Unform changierend eröffnet. Er kreiert die bekannte Welt neu, „als Modell seiner Phantasie“,5 von innen heraus und nach eigenen Gesetzen.


Coralie Rippl

 

 

1 Zitat aus dem der Mappe vorangestellten Text: Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror. Ins Deutsche übers. v. Ré Soupault, Heidelberg 1954, S. 161–164.
2 Egon Heuer, Bernard Schultze. Die Druckgraphik. Werkverzeichnis, hrsg. von Wolfgang Zemter, Witten 1990, Kat. Nr. 59–66.
3 Vgl. Sabine Schulze, Bernard Schultze. Innerer Monolog, in: Kat. der Ausst. Bernard Schultze, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie Frankfurt a. M., Ostfildern-Ruit 2000.
4 Vgl. ebd., S. 10.
5 Doreet LeVitte Harten, Bernard Schultze als apolitischer Künstler, in: NIKE New Art in Europe 27 (März/April 1989), S. 22.