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Bernhard Johannes Blume

Kant zuliebe

1978/1981

Vier Photographien und ein Textblatt auf Photopapier
Maße: jeweils 76 x 50 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: signiert und datiert auf dem Textblatt verso rechts unten
Inventar-Nummer: 1001548.1–4  

 

In einer Sequenz von vier Photographien und einem gleich großen Blatt, das den Begleittext Die reine Vernunft ist als reine Vernunft ungenießbar enthält, hat Bernhard Johannes Blume seine Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft1 anschaulich formuliert.
Leitmotiv ist ein undefinierbarer weißer Gegenstand in Form eines Quaders, mit dem Blume selbst allerlei Aktionen anstellt. Zunächst hält er das Gebilde, dessen rechteckige Form dem Blattformat entspricht, der Kamera so entgegen, daß sein Gesicht von der in Nahaufnahme vergrößerten Hand verdeckt wird. Seine Person verschwindet so in der Anonymität. Blume schlüpft in die Rolle des Kleinbürgers (kleinkariertes Hemd, Tapete), um die Begegnung zwischen „reiner Vernunft“ und „alltäglicher Erfahrungswelt“ zu inszenieren.
Nachdem er dem Betrachter den Gegenstand im ersten Blatt präsentiert hat, nimmt er das „komische Ding“ selbst unter die Lupe. Zwei verschieden große weiße Quader verdecken, in der Luft schwebend, jeweils ein Auge des Künstlers. Unmittelbar vor seinem zu einer Grimasse verzogenen Gesicht scheinen diese Gegenstände ihn zu irritieren. In der dritten Aufnahme versucht er, diesmal mit unverdecktem, aber dafür verschwommenem Gesicht und geschlossenen Augen, sich das eckige Gebilde in den Mund zu stecken. Beinahe gelingt es ihm, doch die Form ist zu kantig und offenbar ungenießbar.
Wie ein Hund mit seinem Knochen im Maul schüttelt sich Blume, dessen Gesicht auf der vierten Photographie durch die heftige Bewegung verwischt ist. Vermutlich versucht er, das ungenießbare Etwas wieder loszuwerden. Der Schriftzug am Ende der Sequenz ist wie eine Erkenntnis hervorgehoben: Die reine Vernunft ist als reine Vernunft ungenießbar.
Durch visuelle Merkmale, die Blume dem abstrakten Terminus „reine Vernunft“ zuschreibt, versucht er diesen über einen entsprechenden Gegenstand zu veranschaulichen.
„Ich zeige hier im Foto ein Gebilde vor mit rationalen Kanten. Es wirkt aus dieser Nahsicht leicht verschwommen. In seiner idealen weißen Sauberkeit steht es für Ordnung und für Reinlichkeit, fürs Technoide, Rationelle, weshalb es also eckig und nicht rund ist.“2


Doch Abstraktes und Konkretes lassen sich nun einmal nicht vereinen, genauso wenig wie die reine Vernunft und die menschlichen Sinne. Mit seiner photographisch beglaubigten fünfteiligen Versuchsanordnung beweist Blume, in einer künstlerischen Abwandlung von Kants Form der „Kritik“, die Unvereinbarkeit der Sinne („Genießen“) mit der „reinen Vernunft“. Gegen die Verdrängung der gefühlten Welt im Namen ihrer rein rationalen Erfassung zielt Blume, ausgehend von Kant, auch heute auf ein Gleichgewicht von empirischem Verstand und Intuition, aus dem die Vernunft hervorgehen soll.


Jari Ortwig

 

 

1 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (21787), in: Kants Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1, Bd. 4, Berlin 1911.
2 Bernhard Johannes Blume, zit. nach: Ders., Hellsehen als Schwarzsehen. Quasiautobiographische Bemerkungen zu einigen Fotosentenzen 1971–1984, hrsg. v. Michaela Schleunung, München 1986, S. 7.