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Rupprecht Geiger

Metapher Zahl

1985–89

Kassette mit zehn Siebdrucken zu den Zahlen 0 bis 9 und zehn visuelle Texte zu den Zahlen 0 bis 9 (Helmut Heißenbüttel, Jiri Valoch, Timm Ulrichs, Wolfgang Schmidt, Franz Mon, Emmett Williams, Heinz Gappmayr, Peter Downsbrough, Eugen Gomringer, Gerhard Rühm)
Maße: jeweils 80,5 x 107 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils verso signiert links unten, nummeriert rechts unten
Exemplar-Nummer: 56/90
Verlag: Edition Hoffmann, Friedberg
Text: Matthias Bleyl
Inventar-Nummer: 1002305.1–10

 

Man sieht zwei aufeinandergesetzte Halbkreise und denkt unwillkürlich an die Zahl 3. Warum? Ist dieses Gebilde nicht zuerst eine Kombination aus zwei ungleich großen runden Elementen? Allein von den beiden Halbkreisen ausgehend bleibt das Zeichen bedeutungslos.  
Mit dem Werk Metapher Zahl stellt Rupprecht Geiger die Frage nach der reinen Form der Ziffern 0 bis 9. Er ignoriert die kulturell festgelegte Bedeutung und konzentriert sich ausschließlich auf das Erscheinungsbild einer jeden Zahl. Die Blätter zeigen daher eine „Metapher“ der jeweiligen Ziffer. Matthias Bleyl schreibt im Mappentext: „Nichts deutet unter formalem Gesichtspunkt darauf hin, daß die Form 3 dem Wert ,drei‘ zu entsprechen habe; theoretisch könnte sie genauso gut für den Wert ,fünf‘ oder für jeden anderen stehen. (…) Die Ziffernfolge ist für Geiger nur eine Art vorgegebenes Thema für eigenständige Variationen. Die Entwicklung der Farbformen wird durch die Grundlage der Zahlenreihe 0–9 angeregt und erleichtert, diese wird jedoch nicht illustriert. Die Ziffern werden nicht nur geschrieben, sondern umgeschrieben.“ Mit vielleicht bewußter Naivität zerlegt Geiger die Zahlen in ihre geometrischen Grundelemente wie Kreise, Ovale, Rechtecke. Er hinterfragt die Quintessenz ihrer Materialität: Was ist eigentlich eine 2? Was eine 3? Um dies zu verdeutlichen, nutzt er Extreme. Die „3“ setzt er aus einem violetten Balken und einem großen pinkfarbenen Kreis auf braunrotem Untergrund zusammen. Die Blätter sind bis zum Rand hin bedruckt. Die Ziffern scheinen gleichsam in einem Farbenmeer zu schwimmen. Paradoxerweise übertreibt Geiger die Vereinfachung, um den Gegenstand „Ziffer“ von seiner Form zu trennen und so den Wiedererkennungseffekt nahezu auszuschalten.


Zu jedem Ziffern-Blatt gehört ein Textblatt konkreter Poesie von zehn verschiedenen Autoren; Wolfgang Schmidt spielt mit der Form der Ziffern 8 und 3. So überrascht er den Betrachter mit einer einfachen Beobachtung 3(gespiegelt)+3=8. Ausgehend von der Form erfindet er für ein Zeichen eine neue Bedeutung.
Geiger suchte, wie viele Künstler seiner Generation, nach dem Nationalsozialismus und dessen Mißbrauch der Traditionen gegenständlicher Kunst nach neuen „unverdächtigen“ Ausdrucksformen. Er fand zur puren Farbe und den elementaren Formen Kreis, Oval oder Rechteck. Außerdem setzte er um, was die Farbtheorie schon lange weiß: Ohne Licht gibt es nur Schwarz. Wenn auf seine Drucke Licht fällt, wird Farbe nicht nur sichtbar, sondern fühlbar. Die Farbklangformen ziehen die Betrachter in den Bann der aggressiven Farben. In seinem Aufsatz „Antworten“ schreibt er: „Ich bin davon überzeugt, daß Farben Formen entwickeln können. Es ist nicht umgekehrt: daß Formen vorausgehen müssen, um mittels Farben manifestiert, ausgefüllt zu werden. Die Farbe drängt (…) automatisch zu einer Form. (…) Ich glaube, daß der Farbe etwas Irrationales anhaftet. Etwas, das in seiner Wirkung nicht verstandesgemäß erfaßbar ist. (…) Man sollte die Farbe immer wieder als selbständigen Lichtträger sehen, als echte Neuschöpfung.“1 Tatsächlich bleibt man als Betrachter hin und her gerissen zwischen meditativer Versenkung und Schockwirkung, denn Geiger besticht durch eine Kombination von lauter Farbwahl und leiser Flächenaufteilung. Und wer weiß – vielleicht leuchten seine Drucke auch im Dunkeln noch.


Melanie Bollmann

 

 

1 Kat. der Ausst. Rupprecht Geiger – Retrospektive, hrsg. v. Akademie der Künste Berlin 1985, S. 66.