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Richard Tuttle

Plastic History

1991

Portfolio mit drei Siebdrucken (transparentes Baumwollfaserpapier, handkoloriert mit pigmentierter Gelatine) und drei Textblättern (Texte von Joseph Beuys, René Descartes und Spinoza, gesetzt in Garamond auf handgeschöpftem Papier aus braunen Kordfasern und weißen Stoffasern mit Mica)
Maße: jeweils 65,5 x 48 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: signiert und datiert auf der Mappeninnenseite
Exemplar-Nummer: 17/50
Herausgeber: Galerie Waßermann, München
Inventar-Nummer: 1002432.1–3
Abbildung: Blatt 1

 

„Auf meinem Rückflug von Europa fragte ich mich: Warum nicht dieses Flugzeug als Scheitelpunkt der Geschichte annehmen? Darunter wäre der Lauf der Geschichte, sanft, wie ein vertrauter Luftstrom, und wäre doch nur Zeit.“ (Richard Tuttle)  


Inspiriert von diesem Gedanken setzt sich Richard Tuttle in Plastic History mit der Schöpfung, der Geschichte und der Stellung des Menschen auseinander. Mit Zitaten aus erkenntnistheoretischen Texten von René Descartes, Spinoza und Joseph Beuys spannt er einen philosophischen Bogen. Er beginnt mit dem ‚göttlichen Funken‘, der Entstehung des Lebensgeistes bei Descartes, geht weiter über die Entstehung der Ethik und damit der Frage nach der (Un-)Vollkommenheit der Schöpfung bei Spinoza, und schließt mit dem von Beuys beschriebenen Materialismus, der Loslösung von der Spiritualität.
Jedem Text ist ein Bild gleichwertig zugeordnet, wobei weder das Bild den Text illustrieren, noch der Text das Bild erklären soll. Text und Bild – bewußt auf gleich großem, jeweils hochwertigem, aber unterschiedlichem Grund gedruckt – stellen zwei verschiedene Ausdrucksformen auf Basis der gleichen Assoziation dar: Tuttles Gedanke aus dem Transatlantikflug. Die Welt dient ihm nicht als Vorlage für ein malerisches Abbild, sie ist nur Erlebnisbasis: Aus Erfahrungen und Gedanken entstehen Bilder. Sie bieten dem Betrachter aber keine fertige Lösung, sondern ermöglichen ihm, Tuttles Gestaltungs- und Erkenntnisprozeß nachzuvollziehen und darüber hinaus weiter zu denken. Der Titel der Arbeit nennt den Angelpunkt: history. Tuttle stellt seine Sicht auf die Geschichte „plastisch“ dar – indem er Gelatine benutzt. Geschichtlichkeit ist sein zentrales Thema, viele Arbeiten haben deshalb auch ephemeren Charakter: „Die Leute mögen Dinge, die beständig sind; ich mag Dinge, die vergehen.“1 Die Arbeiten sind für das Jetzt bestimmt, den Scheitelpunkt der Geschichte.


Auf den drei Blättern von Plastic History treffen Linien und Farben aufeinander. Bei dem ersten, auf Descartes’ Gedanken zur Erschaffung der Lebensenergie bezogenen Blatt kreuzen sich ein weißer und ein schwarzer Streifen, darunter stoßen ein roter und ein komplementärer grüner Farbfleck zusammen. Das zweite, auf Spinozas Überlegung zur Ethik bezogene Blatt wirkt ruhiger. Blaßblaue Farbflecke „wandern“ vom rechten zur Mitte des unteren Bildrandes, wo der letzte auf einen gebrochen weißen Streifen trifft. Das dritte, auf Beuys’ Theorie zu den Folgen des Materialismus bezogene Blatt ist aus drei vertikalen Papierstreifen zusammengesetzt. Der mittlere, schwarze Streifen ist von einem gelben und einem roten Farbfleck durchbrochen. Wo immer Farbflecke aufeinander- oder auf Linien treffen, sind sie explosionsartig intensiviert, das Papier ist durchgeweicht, Löcher sind entstanden. An der Kollision verschiedener Elemente werden Konflikte sichtbar, aber auch Energie, Sprengkraft, Potential. Das läßt sich auch auf die Geschichte – die Evolution, das Aufeinandertreffen verschiedener Geisteshaltungen oder den Gegensatz von Erinnerung und geschichtlicher Wahrheit, von Idee und Wirklichkeit – beziehen. Vieles überläßt Tuttle dem Zufall und der Eigendynamik des Materials Gelatine, weshalb das Ergebnis nicht vorhersehbar ist – jedes Exemplar der Serie ist ein Einzelstück. In ihrer Einfachheit und Einzigartigkeit stehen die poetischen Blätter der von Tuttle geschätzten japanischen Philosophie nahe. Ein besonderer Effekt der Arbeit ergibt sich vor allem bei der Präsentation der Blätter in der Mappe: Man blickt dann durch die im Papier entstandenen Löcher auf die dahinter liegenden Texte, oder – anders formuliert – hinter dem Sichtbaren liegt etwas Unsichtbares. Durch die Risse im Jetzt schimmert eine mögliche Wahrheit.


Anja Simon

 

 

1 Richard Tuttle (1976), zit. nach: Dietmar Elger, Zeichnung ist Objekt ist Zeichnung, in: Kat. Der Ausst. Richard Tuttle, Sprengel Museum Hannover 1990, S. 49.