Kassette mit 15 Vernis mou-Radierungen auf handgeschöpftem Japanpapier
Maße: jeweils 56 x 45 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert, nummeriert und datiert Mitte unten
Exemplar-Nummer: 30/30
Druck: Werkstatt Frielinghaus, Hamburg
Verlag: Edition Schellmann und Klüser, München
Inventar-Nummer: 1001138.1–15
Graubners Serie Simulacrum entführt in die Welt der menschlichen Sinne und beinhaltet Abdrücke verschiedener Partien des menschlichen Körpers. Durch die Vernis mou-Technik, bei der die Druckplatte mit einem besonderen, nicht härtenden Wachs beschichtet wird, in das sich die Struktur aller aufgelegten Zeichenmittel (in diesem Fall einzelner Körperteile) einprägt, um nach der Ätzung im anschließenden Druck deren Feinheiten zu offenbaren1, erzielt Graubner eine originalgetreue Abbildung der Oberfläche der menschlichen Haut.
Die zehnteilige Serie setzt sich aus insgesamt 15 Radierungen zusammen, die ausschnitthaft Haut-, Hand-, Finger- und Fußabdrücke, sowie Auge, Stirn und Mund abbilden. Dabei stehen sich auf vier Blättern jeweils zwei Radierungen gegenüber (und auf einem Blatt übereinander), während die anderen Blätter nur mit je einem Druck versehen sind. Die Farbigkeit ist zurückhaltend; neben neun Graphiken in Grau zeigen sich sechs der „Körperprotokolle“ in Nuancen von Rot bis Braun. Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch auf jedem Blatt ein Mikrokosmos mit einer reichen Skala von Farbtönen, die in ihrer Intensität von nahezu transparent bis tief dunkel abgestuft sind. Auf der Suche nach einer neuen Sensibilität entwickelte Graubner eine individuelle Farb- und Formwahrnehmung, ausgehend von den Fließeigenschaften der Farbe und ihrer Verdichtung zur Form: „Ich verzichte nie auf Form. Farbe war für mich insofern immer Form, als sie sich ausdehnte und zusammenzog.“2
Der lateinische Begriff „Simulacrum“ bezeichnet eine äquivalente Reproduktion des Realen,3 bzw. im Bereich der Kunst eine Selbstverdoppelung „durch eine Manipulation der künstlerischen Zeichen.“4
Graubners Simulacrum präsentiert Abdrücke von realen Körperteilen, die ihren „Vorbildern“ nicht nur optisch ähneln, sondern auch substantiell verwandt sind. Die Leiblichkeit des Körpers und des Bildes, also Fleisch bzw. Farbe, berühren sich im Abdruck der Haut. Nach der graphischen Einschreibung ihrer Oberfläche in das Wachs wird die Radierung zum Medium ihrer Sichtbarkeit. Durch Auswahl und Kombination von Motiven des Körpers schafft Graubners Simulacrum eine neue Bedeutungsebene: Es kopiert die Körperteile nicht nur, sondern macht auch ihre Funktionsweise deutlich.
Auf dem Blatt Simulacrum Nr. 5 stehen sich die Abdrücke einer rechten und linken Handfläche spiegelbildlich gegenüber. Die vollkommene Symmetrie ihrer Umrisse und die Individualität der zarten Linien in ihrer Haut lassen die Gestaltungskraft der Natur bewundern. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt auch Simulacrum Nr. 9, auf dem der Abdruck eines Mittelfingers und Teile des angrenzenden Ring- und Zeigefingers zu erkennen sind. In ihren Maßen unterscheidet sich diese Radierung deutlich von den übrigen Arbeiten, da sie mit ihrem Format die Umrisse des Mittelfingers und seinen Wuchs aus der Hand nachempfindet und von schmaler, länglicher Form ist, während alle übrigen Drucke zu quadratischen oder rechteckigen Formaten tendieren. Der senkrecht nach oben weisende Mittelfinger offenbart im Abdruck die Feinheit seiner Glieder und in deren vertikaler Linearität seinen konstruktiven, fast architektonischen Charakter, ähnelt er doch mit seiner Silhouette einem schlanken Turm, für den die angrenzende Handwurzel ein Fundament bildet.
Susanne Hüttner
1 Eva Bambach-Horst und Jürgen Holz (Hrsg.), Artikel „Vernis mou“, in: Der Brockhaus Kunst. 3. Aufl., Mannheim 2006, S. 933.
2 Uwe Schramm, Malerei als Graphik – Graphik als Malerei, in: Kat. der Ausst. Gotthard Graubner – Radierungen. Unikate aus den Jahren 1969–1995. Probedrucke. Zustandsdrucke. Monoprints. Monotypien, hrsg. v. Kunstverein Münsterland, Düsseldorf 1999, S. 75–76.
3 Jean Baudrillard, Der Hyperrealismus der Simulation, in: Charles Harrison und Paul Wood (Hrsg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2003, S. 1301.
4 Ebd., S. 1302.