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Renato Guttuso

Stilleben mit Korbflasche und Maleratelier

undatiert (vermutlich um 1940)

Lithographie
Maße: 76,5 x 56 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: signiert rechts unten, nummeriert links unten
Exemplar-Nummer: 16/75
Inventar-Nummer: 1001461

 

Der Titel Stilleben läßt ein Arrangement von Gegenständen auf einem Tisch, in sanftem Kolorit und Licht, erwarten. Nicht so bei Guttuso. Sein Stilleben mit Korbflasche und Maleratelier zeigt einen Blick in einen kahlen Raum mit nur einem kleinen Fenster rechts oben, ferner sind zwei Stühle zu erkennen. Der Bildraum wird dominiert von einem großen Regal, auf dem verschiedene Malutensilien liegen, dahinter, auf einem der Stühle, steht eine große Korbflasche.


Guttusos Werk wird, da es neben solchen Atelier-Stilleben und autobiographischen Darstellungen vor allem politisch lesbare Motive aufweist, und der Künstler bewußt auf eine gegenständliche Darstellungsweise zurückgreift, dem Realismus zugeordnet, einem „Metaphysischen Realismus“, der in den Augen des Künstlers etwas Zukünftiges entwirft, „etwas, das man ahnt, und das noch nicht möglich ist.“1 Guttuso will mehr als die Realität malen, er will die Wahrheit darstellen, die dahinter steckt. Auch das Stilleben mit Korbflasche ist (kunst-) politisch zu verstehen.
Die dargestellten Gegenstände sind weder für sich selbst noch wegen ihres ästhetischen Wertes von Interesse, sie haben für ihn eher indexikalischen Charakter. „Für Guttuso ist (…) die Funktion eines Gegenstandes von Wichtigkeit. Flaschen, Dosen und Körbe sind nicht plastische, formale oder magische Requisiten, sie sind erst in ihrem Gebrauch durch den Menschen wesensmäßig determiniert.“2 Und über diese Funktion gewinnen die Gegenstände im Auge des Künstlers eine zweite Bedeutung: In Stilleben mit Korbflasche und Maleratelier meinen sie die Malerei selbst. Im jeweiligen Mal- und Zeichenstil sind Anspielungen auf den Kubismus, Expressionismus und die Abstraktion zu erkennen.


Das Chaos scheint auch Guttusos Innenleben widerzuspiegeln, hatte er doch „den Kopf, die Venen und die Eingeweide voll von Kandinsky, Klee, Mondrian, Joyce, Picasso, Kafka, Schönberg.“ Er empfand diese Situation als eine „Festung der Unmittelbarkeit“ und fühlte sich verdammt, zu „schmoren, eingefroren in einer mächtigen, modernen Kultur.“3
Die Vorstellung von einer „Festung“ zeigt sich in der kahlen, grauen Architektur des Ateliers, in dem nur ein winziges offenes Fenster Hoffnung, in Form von Licht, auf eine ungewisse Zukunft verheißt. Der Weg dorthin ist jedoch versperrt durch das Regal und das Wirrwarr der modernen Kunststile. Sie müssen erst überwunden werden, bevor der Blick durch das Fenster auf eine postrevolutionäre Welt gerichtet werden kann. Die „tumulthafte Architektur“4 der scharfkantigen, bedrohlich anmutenden Materialien wirkt auch wie eine Vorahnung des bevorstehenden Zusammenbruches, des Umsturzes der bestehenden (Un-) Ordnung, im wörtlichen und übertragenen Sinn, zugunsten einer Neuordnung: „Massen, (…) aus dem Gleichgewicht geraten, um sich neu zu ordnen.“5 Auf diese Neuordnung verweist auch das für Guttuso typische Rot, das seine Bilder oft überflutende Hoffnungs- und Freiheitssymbol. In diesem „Bild von der Klage der verworfenen Dinge in der Unordnung der Welt“ wirkt die große Korbflasche wie ein „aus dem Gerümpel sich erhebendes, standhaftes Gefäß“ als Symbol der „stillen Standhaftigkeit der Wirklichkeit.“6 Aber sie ist auch als Reaktion auf den vom faschistischen System geforderten klassischen Stil zu sehen. „Flaschen malen oder hermetische Poesie machen war in sich ein Protest. (…) Wir wollten nicht trocken sein, (…) wir wollten düster sein, sinnlich, bunt expansiv, extrovertiert, artistisch.“7


Die Korbflasche gehört zu den Symbolen, die Guttuso in seinem Werk nicht mehr aufgeben wird. Als Spuren seiner Schlüsselerlebnisse um 1940 ziehen sie sich durch seine Stilleben wie Reliquien der Erinnerung. Und diese Erinnerung bildet für Guttuso eine zentrale „Methode zur Durchschauung der Welt“, zur Findung der Wahrheit.8


Anja Simon

 

 

1 Renato Guttuso in einem Interview, zit. nach: Fritz J. Raddatz, Süchtig nach Kunst, o. O. 1995, o. S.
2 Kat. der Ausst. Renato Guttuso. Darmstadt 1967. ,Magische Requisiten‘ ist eine Anspielung auf den kurz zuvor erwähnten Giorgio Morandi, mit dem sich Guttuso in den fraglichen Jahren auseinandersetzte, vgl. seinen Brief an Raffaele Carrieri: „In meinen Stilleben von 1940, 41, 42 ist die Nähe zu Morandi in der Darstellung einiger Gegenstände in der Art Morandis ausgedrückt (…) besonders durch die Flasche mit den opalfarbenen Spiralen.“ Zit. nach: Kat. der Ausst. Renato Guttuso. Gemälde und Zeichnungen, Stuttgart 1991, S. 106. Guttusos Ziel ist dabei eine Art „Ikonographie des Stils“, der für ihn „selbst schon Aussagekraft enthält“. Vgl. Siegfried Gohr, in: Kat. der Ausst. Renato Guttuso, Kunsthalle Köln 1977, S. 21.
3 Renato Guttuso, zit. nach: Kat. Darmstadt 1967, o. S.
4 Kat. Stuttgart 1991. Zit. nach: Fortunato Bellonzi, Pittura italiana, o. O. 1983, o. S.
5 Mauricio Calvesi, Renato Guttuso. Persönlichkeit und Stil, in: Kat. Stuttgart 1991, S. 25.
6 Werner Haftmann, Renato Guttuso – Mensch und Werk, in: Kat. Stuttgart 1991, S. 15.
7 Renato Guttuso, zit. nach: Kat. Köln 1977, S. 13.
8 Zit. nach: Werner Haftmann, Renato Guttuso. Immagini autobiografiche, Rom 1971 / Berlin 1973.