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Fritz Winter

ohne Titel

1966

Zinklithographie auf Bütten (Graphik Nr. 32 aus dem Künstlerbuch Epitaph Karl Amadeus Hartmann, das 32 Graphiken von 32 Künstlern enthält)
Maße: 47,3 x 37,5 cm
Exemplar-Nummer: 136/500
Druck: Herbert Post Presse, München
Herausgeber: Elisabeth und Richard P. Hartmann
Verlag: Grimm und Bleicher, München
Inventar-Nummer: 1000289.6

 

Ein flüchtiges Strichmännchen. Ist das Fritz Winters Idee vom Menschen? Sternförmig laufen die schwarzen Linien in seiner Lithographie zu einer Figur zusammen, die riesenhaft am rechten Rand des Blattes steht. Die lockere Komposition der scheinbar schnell hingeworfenen Zeichnung verdichtet sich zu einfachen Elementen, wenn man die Phantasie auf die Suche nach bekannten Formen schickt: Bäume, die eine Allee bilden, eine menschliche Figur – vielleicht ein Dirigent mit Taktstock? – in Berührung mit der Natur.


Der 1963 verstorbene Komponist Karl Amadeus Hartmann, dem das Epitaph als Gedenkbuch mit persönlichen Botschaften vieler Künstler gewidmet ist, beschritt nach dem Zweiten Weltkrieg neue Wege als Begründer der noch heute bestehenden Konzertreihe Musica Viva des Bayerischen Rundfunks für die Aufführung und Verbreitung avantgardistischer Musik. Ebenso neue Aspekte der Kunst führte der am Bauhaus bei Paul Klee und Wassily Kandinsky ausgebildete Winter nach dem Krieg als Gründungsmitglied der abstrakten Münchner Gruppe „ZEN 49“ ein. Winter und Hartmann, jeder in seinem Gebiet, suchten nach dem Zivilisationsbruch eine neue Sprache. In der Musik vollzog sich eine Abstraktion vom typischen melodischen Prinzip, in der Malerei die Freisetzung der Form und des Farbtons vom Gegenstand.


Winter aber hat sich niemals ganz vom Gegenständlichen gelöst. Seine Formen sind aufs Nötigste reduziert, was von ihnen bleibt, ist das zarte Linienskelett. Aufmerksame Betrachter erkennen jedoch den Schattenriß als komplizierten Bildkosmos rund um Winters eigenstes Thema, die „Menschlichkeit“. Bereits die deutsche Mystik formulierte ein Menschenbild, das hier wieder anzuklingen scheint: der in den Kosmos eingebundene Mensch. Bei Hildegard von Bingen steht er noch ganz im Mittelpunkt, als Mikrokosmos reflektiert er den umgebenden Makrokosmos. Die zugehörigen Ordnungssysteme wie Tierkreiszeichen oder Windrose sind auf den Menschen projiziert, seine Körpermitte ist – man stelle sich Leonardo da Vincis Proportionsstudie Mann in Kreis und Quadrat vor – der „Nabel der Welt“. In der Romantik ist es dann der Weltgeist, der im Gefühl die Welt umfassen kann, wieder eins mit dem Universum sein kann.


In dieser Tradition steht auch Winter mit seiner Zeichnung vom Menschen in der Natur. Er verwendet die elementaren Dinge des Lebens, um an ihnen philosophische Wahrheiten sichtbar zu machen, wie es die Romantiker taten, gleichzeitig zitiert er die Symbolik mystischer Einheitsvorstellungen des Mittelalters. Sein Blatt zeigt einen Kosmos sich gegenseitig durchdringender Formen. Aus der Mitte gerückt, doch überdimensional, steht der ordnende, tätige Mensch am Rande: Die Linien, die von ihm ausgehen, bestimmen die Komposition, kreuzen sich vielfältig mit anderen gestischen Strichen, die eine Allee und darüber den Himmel mit Gestirnen andeuten. Der Mensch als Teil und Krone der Schöpfung hat seinen Sonderstatus eingenommen, erkennt den Kosmos in seinen grundlegenden Ideen: „Man muß die Zusammenhänge finden, denn auch das Kleinste ist Abbild des Großen“.1 Winter komponiert somit eine abstrakte Skizze der Welt. Seine gleichsam konjunktivische Kunst ist nicht diesseitig und leicht greifbar, zeigt keine barocke Üppigkeit der Farben und Formen. Winters minimalistische Zeichen stoßen den Prozeß nur an: „Und große Erkenntnisse haben keine leuchtenden Farben, sie sind entweder schwarz oder weiß oder grau.“2


Coralie Rippl

 

 

1 Fritz Winter, zit. nach: Kat. der Ausst. Fritz Winter: Peintures 1951, Galerie Marbach, Paris / Bern 1969, S. 17.
2Fritz Winter, Tagebuchaufzeichnungen, zit. nach Carla Schulz-Hoffmann, Fritz Winter und die abstrakte Malerei in Deutschland, in: Kat. der Ausst. Fritz Winter, hrsg. v. Johann Karl Schmidt, Galerie der Stadt Stuttgart, Stuttgart 1990, S. 11–17, hier S. 16.