Sechs schwarz-weiß Lithographien
Maße: jeweils 61 x 91 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils signiert, datiert und nummeriert rechts unten
Exemplar-Nummer: 40/40
Inventar-Nummer: 1001513.1–6
Bellende Hunde, Ufos, ein Fernseher, Kreuze und – nicht zu vergessen – der Mensch, das sind typische Motive aus dem Bildvokabular Keith Harings. Die Formen sind stets plakativ vereinfacht, auf Perspektive verzichtet der Künstler. Klare schwarze Linien umreißen seine Figuren, die trotz der simplifizierenden Darstellung ein hohes Maß an Dynamik ausstrahlen. Besonders hervorgehoben wird ihre Energie, ähnlich wie bei Comics, durch eine „Aura“ aus schwarzen Strahlen, die Hunde und Menschen umgeben und Bewegung veranschaulichen.
Die Reduktion der Formen und Motive hat ihre Wurzeln in der künstlerischen Frühphase Harings, als er illegal New Yorker U-Bahnschächte und Hauswände bemalte, was in hohem Tempo geschehen mußte. Er agierte an öffentlichen Orten, weil er Aufmerksamkeit erreichen wollte. Sein Bestreben war nicht die Anerkennung in der Kunstwelt, er wollte eine global verständliche Chiffrensprache für ein großes Publikum einsetzen. Um Naturähnlichkeit ging es ihm dabei nicht: „Meine Zeichnungen versuchen nicht, das Leben nachzuahmen, sie versuchen, Leben zu erschaffen, Leben zu erfinden.“1
Bei Betrachtung der Bilderserie stellt sich die Frage nach einer Reihenfolge, die zwar im Werkverzeichnis der Graphik des Künstlers definiert ist2 , doch sind andere Reihenfolgen mit unterschiedlichen Interpretationen denkbar. Die vorliegende Beschreibung bezieht sich auf die Reihenfolge im Werkverzeichnis.
Das erste Bild wird beherrscht durch zwei wild tanzende Hunde, die fast formatfüllend in ein labyrinthisches Liniengewirr einbeschrieben sind. Oben und Unten sind nicht auszumachen, die Welt ist buchstäblich aus den Fugen geraten. Auf dem zweiten Bild sind zwei gepunktete Hunde in aufrechter Haltung dem Zentrum der Darstellung zugewandt. Sie bilden mit einem Menschen in ihrer Mitte eine Art Reigen. Hinter den Figuren ist ein Kreuz zu sehen, flächig gepunktet und von einer Art Strahlengloriole umgeben. Der Mensch ist durch ein Kreuz markiert – bei Haring ein „Kürzel für positiv besetzte Individualität“. Das weitere Bild zeigt wieder die gepunkteten Hunde, der rechte scheint den vor ihm knienden Menschen zu penetrieren, während der linke ein Fernsehgerät hält, auf dessen Bildschirm ebenfalls ein Hund zu sehen ist. Der menschlichen Figur im Vierfüßlerstand ist die Haltung eines Tieres aufgezwungen. Es zeigt sich „das Eindringen der technischen, entmenschlichten Welt des Mediums Fernsehen.“3 Die Unterwerfung des Menschen geschieht durch Gewalt und Indoktrination. Auf dem folgenden Bild wird ein Hund von den Strahlen eines Ufos getroffen. Bei den fliegenden Untertassen in seinem Werk handelt es sich laut Haring um Gotteserscheinungen: „Sie verkörpern die höchste Macht (…). Es geht nicht um einen spezifischen Gott, sondern vielmehr um eine göttliche Kraft.“4 Das nächste Bild ist wieder vom Allover der Linienführung geprägt. Nun tanzen die Hunde vor einem Kreuz im Zentrum des Geschehens. Der Mensch hat die Rolle des Gekreuzigten eingenommen. Die Anlehnung an die christliche Ikonographie weist den flankierenden Hunden die Rolle von Assistenzfiguren wie in Darstellungen von Kreuzigungsszenen zu. Die Welt scheint aus den Fugen, der Hund ist zum Raubtier, der Mensch zum Opfer geworden – vielleicht zum Opfer seiner selbst. Haring schreibt am 18. März 1982 in seinem Tagebuch, daß er „1958 geboren wurde, geboren in eine Welt der Fernsehtechnologie und sofortigen Befriedigung, ein Kind des Atomzeitalters. Man wuchs auf im Amerika der 60er Jahre und erfuhr etwas über den Krieg in den Berichten des Life-Magazins über Vietnam. Man sah Aufstände im Fernsehen (…).“5 Die Hunde, die im Gegensatz zum Menschen immer im Rudel dargestellt sind, können als Symbol der enthemmten Masse gedeutet werden, die das Individuum Mensch auf die Knie zwingt.
Lilian Ziehler
1 Keith Haring im Interview mit Cliff Flyman (1980), zit. nach: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, hrsg. v. Detlev Bluemler und Lothar Romain, München 1994, S. 14.
2 Keith Haring, Editions on paper 1982–1990, hrsg. v. Klaus Littmann, Stuttgart 1993.
3 Susanne Conzen, Keith Haring – „Gut und Böse“, in: Kat. der Ausst. Gut und Böse. Politik, Kunst, Gesellschaft, Städtische Galerie Lüdenscheid 2006, S. 24.
4 Keith Haring im Interview mit Germano Celant (1981), in: Germano Celant, Keith Haring, München 1992, S. 31.
5 Keith Haring, Journals, New York 1996, zit. nach: Conzen 2006.