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Mario Merz

ohne Titel

1974

Vier Lithographien (eine schwarz-weiß, drei farbig)
Maße: jeweils 70 x 90 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils verso signiert Mitte unten, nummeriert verso links unten
Exemplar-Nummer: 27/125
Herausgeber: Edition Bot 18, Macerata (Italien)
Inventar-Nummer: 1001132.1–4

 

Die unbetitelte Sequenz von Mario Merz umfaßt vier Lithographien, die erste trägt den programmatischen Schriftzug: „Il numero ingrassa (come) i frutti d’estate e le foglie abbondanti 1-1-2-3-5-8-13-21-34-55“ (Die Zahl nimmt zu – wie die Sommerfrüchte und die reichlich vorhandenen Blätter 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55). Die folgenden drei Blätter zeigen Tische zunehmender Größe (aber gleichbleibender Höhe). Auf dem zweiten Blatt sind sieben Tische spiralförmig gruppiert, auf dem dritten finden nur noch zwei Platz und die Bildfläche des vierten wird ganz von einem großen Tisch eingenommen.


Das Motiv wurzelt in einer Erfahrung aus Merz’ Kindheit. In Zusammenhang mit den vielen kleinen Tischen in seiner Schule erwähnt er eine offenbar dort gewonnene Erkenntnis, die sein Raumverständnis veränderte: „Als ich begriff, daß ein Bild aus dem gleichen Raum besteht wie ich, habe ich den einzigartigen Wert der Proportionen des Raumes begriffen.“1 Merz benutzt das Tisch-Motiv analog zum Bild als Symbol für Lernen sowie zur Demonstration seiner konkreten Erkenntnis über Raum. In einem Bild treffen drei Räume aufeinander: der reale Raum, in dem das Bild ausgestellt ist, der imaginäre Raum, der dargestellt wird, und der nicht direkt darstellbare, geistige Raum, auf den das Dargestellte hinweist.2 In den Graphiken dieser Folge will Merz diese Räume zueinander öffnen, sie miteinander verbinden.


Er öffnet den Bildraum in zweifacher Hinsicht. Zum einen läßt er die Tische durch den Wechsel der Fluchtpunkte optisch aus der Fläche auf den Betrachter zu kippen und öffnet so den imaginären Bildraum zum realen Raum. Zum anderen entsprechen die sprunghaft zunehmende Größe und die spiralförmige Anordnung der Tische dem Prinzip der auf dem ersten Blatt erscheinenden Fibonacci-Reihe.3 Diese ergibt räumlich eine Spiralform und repräsentiert für Merz natürliches Wachstum. Die ersten beiden Tische entsprechen also der Zahl 1, der dritte der 2, der größte schließlich der 55. Durch die Verwendung von Tischen entsprechender Größe, statt nur der Zahlen, gelingt es Merz, die Dimension der Größenentwicklung bildhaft darzustellen. Gleichzeitig impliziert der Beginn der Fibonacci-Reihe das Wachstum der Tische in der Vorstellung des Betrachters ins Unendliche und öffnet so den geistigen Raum.


Die Verbindung der „Sommerfrüchte“ mit der Fibonacci-Reihe unterstreicht deren natürlichen Wachstumsprozeß, und in Verbindung mit dem Motiv der Tische verweisen die Früchte auf dessen kommunikativen Wert als Ort des Essens und Trinkens. Diese von Merz oft verwendete Kombination, Tische, Früchte und Fibonacci-Reihe, verkörpert Natur und Lebenskultur, zwei zentrale Aspekte seines Werkes. Die Komplementärfarben Rot und Grün, die in Verbindung mit dem Tisch-Motiv auf Wein und Reben verweisen, veranschaulichen auf malerische Weise das Thema.


Die Signalfarbe Rot ist der Horizontalen der Tischplatten zugeordnet. Sie enthält für Merz Energie, gleicht einem „Angriff“4, und impliziert das Ausgreifen aus der Bildfläche in den realen Raum. Den vertikalen Flächen ist die Farbe Grün zugeordnet, als Inbegriff des natürlichen Wachstums. Auf dieser Grundlage entwirft Merz im Modell des numerischen Wachstums, der Zählung und der Ausdehnung der Tische, das Modell eines Wachstums auch des menschlichen Geistes. Zugleich stellt er in den Graphiken eine Beziehung zwischen den drei Räumen her. Sie durchdringen sich gegenseitig, gehen eine Synthese ein, zu einem Raum, in dem die Tische existieren und weiter wachsen können. Im realen Raum wie auch im Bildraum ist das Wachstum begrenzt: der zehnte Tisch findet auf seinem Blatt kaum noch Platz. Vor dem geistigen Auge dagegen wächst die Zahl, wachsen die Blätter selbst ins Unendliche.


Anja Simon

 

 

1 Mario Merz (1974), zit. nach: Anke Glas, Ikonographie des Bewußtseins. Zu den Motiven Natur und Kultur bei Mario Merz, München 1998, S. 164.
2 „I was trying to create a relationship between the space of the canvas and real space.“ Mario Merz (1976), zit. nach: Kat. der Ausst. Mario Merz, hrsg. v. Germano Celant, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1989, S. 32.
3 1-1-2-3-5-8-13-21-34-55-89-usw.; die Vermehrungsrate von Kaninchen (jeweils zwei Zahlen addieren sich zur nächsten), entdeckt durch den Mönch Fibonacci da Pisa (Leonardo Pisano, ca. 1180–1240), vgl. Kat. der Ausst. Mario Merz, Kunsthaus Zürich 1985, S. 37/47.
4 Mario Merz in einem Interview von Germano Celant, zit. nach: Kat. Zürich 1985, S. 41