Werk-Detailseite (Ajax)

Gerhard Merz

Mondo Cane

1983/1984

Drei Farbsiebdrucke mit Ausstanzungen, eine Gouache auf Bütten
Maße: jeweils 76 x 65 cm
Signatur, Datierung, Nummerierung: jeweils verso signiert links unten, nummeriert rechts unten
Exemplar-Nummer: 28/30
Inventar-Nummer: 1001225.1–4

 

Mondo Cane (ital.: Hundswelt) heißt das vierteilige Werk von Gerhard Merz. Möglicherweise hat Merz sich an Gualtiero Jacopettis Film Mondo Cane von 1962 erinnert, der breite Nachfolge fand und ein eigenes Filmgenre prägte, die Mondofilme, die besonders im Italien der 1960er und 70er Jahre beliebt waren. Sie zeigen faszinierende, abstoßende, gewalttätige, manchmal amüsierende Szenen aus der ganzen Welt, häufig Bräuche „primitiver“ Eingeborener, aber auch makabre Sitten oder seltsame Verhaltensweisen fremder, scheinbar „zivilisierter“ Länder. Szenen, die schockieren sollen, aber gleichzeitig einen sarkastischen Blick auf das vermeintlich so kultivierte Wesen Mensch zeigen.


Mondo Cane hieß auch eine Ausstellung von Merz 1983 im Münchner Lenbachhaus. Dort konfrontierte der Künstler in den historischen Räumen, die im Stil des späten 19. Jahrhunderts eingerichtet sind, Darstellungen von Menschen der Dritten Welt mit einer monochrom blauen Tafel.


Diese Motive finden sich in dem abgebildeten Werk Mondo Cane wieder. Auf drei Blättern in zartem Gelb, in die auf der linken Seite in der Vertikale sechs gleichmäßige Löcher gestanzt wurden, sind porträthafte Photos reproduziert. Das erste Blatt zeigt in Schwarz- Grün das Bild eines Ureinwohners mit Federschmuck, das zweite einen vermummten Beduinen mit Turban in Brauntönen, das dritte in Gelb einen bemalten Indianerkopf. Die Figuren stammen aus einer uns fremden, anderen Welt mit ihren Traditionen und Ritualen. Die Gouache hingegen, das vierte Blatt, ist mit dem Pinsel monochrom blau angelegt. Steht diese Monochromie für unsere moderne europäische Welt? Dies muß offen bleiben, doch ist das scheinbar leere Bild nicht ohne Inhalt.


Selbst die Farbe Blau hat eine Tradition. Das Blau von Yves Klein, das Blau des Mantels der Mutter Gottes, das Blau des Himmels, der Weite oder des Wassers und der Ferne. Diese vier Druckgraphiken sind Merz’ Frühwerk zuzurechnen. Er selbst würde es vielleicht zu seinen, wie er sagt, „Verzweiflungstaten“ auf der Suche nach einer adäquaten Ausdrucksweise zählen, in denen es ihm noch nicht gelungen war, das darzustellen, was er möchte, nämlich: reine Kunst. Keine Natur, keine Gegenstände, kein Auslösen von Erinnerungen an die reale Welt, sondern Kunst, etwas, das der Welt der Ideen entstammt. Das „Bild“ als alleiniger Bildgegenstand ohne moralisierende, psychologisierende, symbolische, soziale oder politische Inhalte. Später versucht er dies in Verbindung von Licht, Architektur und Farbe, der Verbindung von Kunst und Raum in sehr klarer formaler Ordnung zu vermitteln. „Nichts existiert als die Atome und der leere Raum. Alles andere ist Meinung.“ (Demokrit)1 Merz möchte dieses Essentielle, nach Demokrit den leeren Raum und die Atome, darstellen, für ihn die „Kunst“ an sich, nicht Bilder mit Deutungsmöglichkeiten, die auch ungemeinte Vorstellungen hervorrufen. Er möchte Tatsachen schaffen,2 keine Abbildungen. Seine Werke fungieren nicht als Fenster, durch das hindurch man auf etwas anderes sieht. Er möchte das Fenster selbst als Form der Erkenntnis zeigen. Dennoch ist es nicht zu verhindern, daß sich jeder Mensch sein eigenes Bild der Wirklichkeit konstruiert – was ist schon Tatsache und was bloß Meinung?


Sarah Wittig

 

 

1 Zit. nach: Kat. der Ausst. Gerhard Merz, Fragmente, hrsg. v. Eckhardt Schneider, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2003, o. S.
2 Vgl. Kat. der Ausst. Gerhard Merz. Bozen – Bolzano, hrsg. v. Markus Klammer, Kunstverein Bozen 1997, S. 9.